Artikel und Texte: Erinnerung
Erinnerung
Dag Frommhold, 1993

Der junge Fuchs schlich ziellos durch das neblige Grau, den kalten Beton der ihn umgebenden Stadt, ohne den Geräuschen, dem Licht und dem Dunkel in seiner neuen Heimat Beachtung zu schenken. Sein vom Regen durchnäßtes rotbraunes Fell haftete dicht an seinem Körper, der Schwanz hing kraftlos herab, und je häufiger, je intensiver die Tropfen ihn trafen, desto größer wurde die Gleichgültigkeit, die das Tier den Launen der Natur in diesem Moment entgegenbrachte. Traurig starrten seine verschleierten Augen geradeaus, in eine andere, für ihn vergangene Welt, eine Dimension, in der er selbst sich noch vor wenigen Tagen befunden hatte, die für ihn inzwischen jedoch unendlich weit entfernt zu sein schien.
Es war vorbei.
Alles war vorbei, und doch mußte es weitergehen - das Leben, ein großes Fragezeichen, ein Paradoxon in einer noch paradoxeren Welt, einer Welt, die der Mensch und damit das Schlechte zu regieren schien.
Für einen kurzen Moment hielt der junge Fuchs in seinem Lauf inne, als der dumpfe Laut einer weit entfernten Explosion in sein Bewußtsein drang. Noch lange nicht verheilte Wunden, die das Schicksal gerade erst in seine Seele geschlagen hatte, platzten durch den unheilsschwangeren Laut noch weiter auf, quälten ihn, weit mehr als jeder körperliche Schmerz ihm jemals hätte zusetzen können. Als hätte die Erinnerung ihn für wenige Augenblicke aus seiner Gleichgültigkeit, seinem tranceähnlichen Zustand gerissen, sah der Fuchs sich nun um, bebend, aber ohne die sonst für seine Art so typische Wachsamkeit, bis sein schwermütiger Blick schließlich an einem in der Ferne düster im Nebel emporragenden Hochhaus haften blieb. Minutenlang fixierte er den kalten, grauen Beton, dessen Beschaffenheit dem Charakter seines Erbauers so unendlich ähnlich zu sein schien. Regungslos stand er da, bis er seine Augen schließlich von dem gefühllos anmutenden Bauwerk abwandte, langsam an sich selbst herabsah und sich schließlich, den Ausdruck auf seinem fein gezeichneten Gesicht zu einer vorwurfsvollen Miene gewandelt, niedersetzte. Sein Blick verschleierte sich erneut, und sein buschiger, um den Körper gelegter Schwanz zuckte kurz empor, als der junge Fuchs vor seinem inneren Auge draußen, weit außerhalb der Stadt, mehr noch - in einer anderen Welt - etwas zu erblicken glaubte, das ihm auf seine Weise realer erschien als die absurde physische Welt, in der sich sein Körper jetzt befand.
Es war ein sonniger, nahezu wolkenloser Morgen im Frühherbst. Weit über dem jungen Fuchs, in den Baumwipfeln der gesamten Umgebung, zwitscherten Singvögel, und von irgendwo, aus nicht allzu großer Ferne, drang das unverwechselbare, rhythmische Klopfen eines Spechts an seine gespitzten Ohren. Er gähnte herzhaft, schüttelte sich und streckte träge jeden einzelnen seiner vier kräftigen Läufe. Das Gefühl ungebundener Freiheit, der Herrschaft über sein Land, sein Revier, erfüllte ihn, seit er das Gebiet seiner Eltern vor wenigen Wochen gemeinsam mit einem anderen jungen Fuchs verlassen und hier nach verblüffend kurzer Zeit der Suche für sich ein unbesetztes Revier gefunden hatte. Sein Glück schien perfekt - er war jung, gesund, kräftig, intelligent und gutaussehend, er genoß sein Leben, und verfügte über alles, was ein Fuchs begehren konnte.

Schließlich gähnte er ein zweites Mal, blickte sichernd in die Umgebung und rollte sich darauf auf einem großen Findling in der Nähe seines Baus zusammen, um sich dösend die Herbstsonne auf den dichten rotbraunen Pelz scheinen zu lassen. Doch seine Ruhe währte nur wenige Minuten - und er war froh darüber, als eine hübsche junge Füchsin ihn mit den Worten "Guten Morgen, Swift!" begrüßte.
Der Fuchs sprang sofort auf alle Viere, wandte sich um und schritt erhobenen Hauptes auf das Weibchen zu, bis er sich weniger als einen Meter von ihr entfernt in das taubenetzte Gras setzte und sie sanft anlächelte. Diese junge Füchsin namens Cosy, die Swift erst vor wenigen Tagen in seinem neuen Revier kennengelernt hatte, war für ihn unter all den Elementen, die sein Glück ausmachten, das wichtigste, und seine Zuneigung zu ihr kannte keine Grenzen.
"Guten Morgen, Cosy." erwiderte er mit sanfter Stimme ihren Gruß. Als die Füchsin sich weiter genähert hatte und sich unmittelbar vor dem jungen Fuchs mit verführerischer Körperhaltung ins Gras legte, senkte Swift seine Schnauze vorsichtig zu ihrem Kopf herab und streichelte ihr sanft über Nacken und Ohren. Cosy schloß genießerisch die Augen und ließ ihren Schwanz langsam durch das taubenetzte Gras streichen, nicht ohne Swift dabei einmal mehr Gelegenheit zu geben, ihre Schönheit zu bewundern. Ihr dichtes, rötliches Rückenfell stand in perfektem Kontrast zu dem Weiß ihres Bauches und ihrer Beininnenseiten, und ihre zierlichen, in weichen, tiefschwarzen Pfoten endenden Läufe lagen ausgebreitet im Gras. Für Swift war diese junge Füchsin der Inbegriff der Schönheit, und er war überglücklich, mit ihr zusammensein zu dürfen. Zärtlich leckte er ihr erst das Hals- und Brustfell, dann die Vorderläufe, und jede Berührung seiner Zunge mit ihrem Körper war unverkennbar Ausdruck der Unzertrennlichkeit des jungen Fuchspaares. Minutenlang beleckte und beknabberte Swift die Füchsin, bis er schließlich innehielt, ihr verliebt in die bernsteinfarbenen Augen sah und sich glücklich neben ihr im taubenetzten Gras ausstreckte. Cosy betrachtete ihren Gefährten aufmerksam von der Seite - Swift war ein wahres Prachtexemplar eines jungen männlichen Fuchses, und die meisten anderen Jährlinge, denen sie bislang begegnet war, hätten gegen ihn schwächlich ausgesehen. Seine intelligent funkelnden Augen spiegelten unbändige Lebenslust wider, und mit seinen messerscharfen Sinnen konnte sich kein anderes Tier im Wald messen. Für sie schien die Zukunft, die gemeinsame Zeit, die vor ihnen lag, viel Gutes, viele gemeinsame Erlebnisse, an die man sich später gerne erinnern würde, zu bergen, und so erwarteten sie die Ereignisse, die hier, in ihrem gemeinsamen Revier auf sie warten mochten, mit gespannter, aber freudiger Neugier.
Tage vergingen so, Tage, an deren Sorglosigkeit die beiden jungen Füchse sich zu gewöhnen begannen. In all der Perfektion, der Makellosigkeit dieser Idylle schien es wochenlang nichts zu geben, was Schatten auf das gemeinsame Glück des jungen Fuchspaares zu werfen vermochte. Swift und Cosy waren mehr und mehr mit sich selbst beschäftigt. Sie wichen nicht mehr von der Seite des jeweils anderen, suchten zusammen nach Früchten, jagten zusammen, beleckten, beknabberten und liebkosten sich immer länger und intensiver. Während mit großen Schritten der Winter und mit ihm die Paarungszeit näher rückte, schien es, als könne nichts die kleine glückliche Welt der beiden Füchse durcheinanderbringen. Doch dann, mit einer ungewöhnlichen Begegnung im späten Oktober, kehrten unvermittelt alle in Vergessenheit geratenen Ängste und Befürchtungen der jungen Füchse zurück.
Es war früh am Morgen. Am Horizont begannen gerade die ersten, diffus durch die wenigen, weit entfernten Wolken dringenden Sonnenstrahlen die Umgebung in ein rötliches Dämmerlicht zu tauchen, während Swift und Cosy gerade nebeneinander her durch das taubenetzte Gras einer Lichtung schnürten. Sie hatten zusammen nach Nahrung gesucht und kehrten nun, vom Fleisch eines geschwächten Kaninchens sowie von Fallobst gesättigt, zurück. Dann, gerade, als sie das Dickicht auf der anderen Seite der Lichtung erreicht hatten, hielt Swift plötzlich in seinem Lauf inne, spitze aufmerksam die Ohren, hielt die empfindliche Nase schnuppernd in den Wind und sog beunruhigt die kühle Morgenluft ein.
"Swift...was ist denn los ?" fragte Cosy mit ungewohnter Ängstlichkeit in der Stimme, bebend einen weiteren Schritt auf Swift zu machend.
Die Antwort erübrigte sich. Auf einmal brach aus dem Dickicht zur Rechten der beiden jungen Füchse ein Dachs hervor, bewegte sich einige Meter in Richtung der ebenso verwunderten wie erleichterten Füchse und blieb dann, Swift und Cosy argwöhnische Blicke zuwerfend, in sicherem Abstand zu ihnen stehen. Swift wandte sich sofort zu ihm um. Sein Körper, die gesträubten Nackenhaare, der aufgestellte Schwanz, die gebleckten Fangzähne sprachen eine wortlose Warnung aus, die das gedrungene marderartige Tier unverhohlen erwiderte.
"Was willst du?" knurrte der junge Fuchs, mit seinen aggressiv blitzenden bernsteinfarbenen Augen das Gesicht des Dachses fixierend. Er wollte einen Kampf vermeiden, denn auch wenn Cosy und er selbst ungleich flinker und schneller waren als ihr Gegenüber, so wußte er doch, daß mit einem ausgewachsenen Dachs nicht zu spaßen war. Außerdem schien die Kampfbereitschaft dieses Tieres schon in harten Gefechten Ausdruck gefunden zu haben, denn über seinem linken Auge zog sich eine große Narbe bis zum stark in Mitleidenschaft gezogenen Ohr.
Das andere Tier sah indes erst Swift, dann Cosy, die sich inzwischen wieder zu ihrem Gefährten gesellt hatte, unbeeindruckt in die Augen. "Ein Fuchs in diesem Revier..." murmelte es schließlich. "Ihr müßt verrückt sein."
Swift zögerte einen Moment, bemühte sich dann jedoch redlich, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. "Genau, ein Fuchs in diesem Revier...in meinem Revier! Und ich werde es, wenn nötig, verteidigen." Seine Stimme klang finster.
Der Dachs lachte hohl. "Verteidigen...gegen die Wesen, die hier herrschen, kann sich kein Fuchs verteidigen." erwiderte er.
Swift kombinierte rasch. "Hier gibt es keine Menschen!" rief er schließlich, ohne länger in der Lage zu sein, all die Emotionen, die ihn in diesem Moment erfüllten - Neugier, Furcht, Aggressivität, Kampfbereitschaft - weiter zu verbergen. Die Krallen seiner Vorderpfoten gruben sich nervös in den Untergrund, sein buschiger Schwanz peitschte hin und her, während der Dachs eine überlegen wirkende Miene aufsetzte.
"Im Moment nicht." entgegnete dieser. Dann kniff er die Augen zu schmalen, Swift und Cosy aufmerksam musternden Schlitzen zusammen und fuhr schließlich mit zynischem Unterton fort: "Das hat so mancher Fuchs vor euch auch gedacht - bis die Kugel ihn traf. Kein Fuchs hat hier länger als ein paar Monate gelebt – die klugen flohen rechtzeitig, aber die meisten eurer Art wurden erschossen."
Swift blieb, wie erstarrt vor Schreck, stehen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er erfahren, wozu Menschen in der Lage waren. Mit bebenden Läufen machte er schließlich einen Schritt auf den Dachs zu, der seinerseits zurückwich, um in sicherer Entfernung zu den beiden Füchsen zu bleiben. Cosy atmete tief durch. Einen Moment lang starrte sie ins Nichts, sich an jene mondlose Nacht erinnernd, in der sie ihre Mutter in einer Falle gefunden hatte – tot, das Genick gebrochen, das Fell durchnäßt vom strömenden Regen, während sich in ihren weit aufgerissenen Augen ein schockierender Abgrund von Angst, Hilflosigkeit und Verständnislosigkeit für das Geschehene widergespiegelt hatte.
Die Füchsin schüttelte sich heftig, als hoffte sie, dadurch ihre schlimmen Erinnerungen einfach abschütteln zu können und wieder klareren Kopf zu bekommen. Schließlich blickte sie den Dachs wieder an und fragte mit zitternder Stimme: "Warum haben sie uns dann in all der Zeit nicht nachgestellt?"
"Weil ihr ihnen im dichten Winterfell...besser gefallt." antwortete der Dachs prompt. Der zynische Unterton klang immer deutlicher aus seinen Worten heraus. "Ich habe schon einmal beobachtet, wie ein Jäger einen von euch an den Hinterläufen an einen Baum hängte und das Fell abzog...es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der blutige Fuchspelz ausgebreitet im Schnee lag."
Swift mußte sich beherrschen, um nicht in Panik zu geraten. Als er seine Fassung wieder vollständig zurückerlangt hatte, betrachtete er den Dachs mit einer skeptischen, argwöhnischen Miene. "Du willst uns nur Angst machen." meinte er schließlich listig. "Warum bist du selbst noch nicht ausgewandert, wenn es hier so gefährlich ist? Oder, alternativ dazu: Warum lebst Du noch?"
"Nun..." begann der Dachs zögernd, doch es wurde rasch deutlich, daß er auch die Antwort auf diese Frage nicht schuldig bleiben würde. "Kein dichtes weiches Fell...“, grinste er. „Außerdem scheinen die Menschen mehr Spaß daran zu haben, euch Füchsen nachzustellen. In all der Zeit, in der ich hier lebe, hat mir tatsächlich noch kein zweibeiniger Jäger nachgestellt. Außer..."
"Außer?" schnappte Swift.
"Diese Narbe hier...hat mir eine Falle zugefügt, die wohl für einen Fuchs aufgestellt war. Ich hatte Glück, mir darin nicht das Genick zu brechen. Aber ich wurde am nächsten Morgen von dem Jäger, der sie aufgestellt hatte, befreit."
Swift sah zu Boden. Er war zu verloren in seinen eigenen Ängsten und Erinnerungen, um dem schockierten und tief verletzten Ausdruck auf Cosys hübschem Gesicht allzu viel Aufmerksamkeit widmen zu können. Fern von hier, hatte auch er Wesen, die er lieb gewonnen hatte, an die Willkür und die Blutgier menschlicher Jäger verloren, und die Worte des Dachses erschütterten ihn. Waren sie wahr, so bedeutete das für Cosy und ihn die Wahl zwischen sicherem Tod und der Aufgabe all jener Annehmlichkeiten, die ein eigenes Revier mit sich brachte – stattdessen würden sie in den Gebieten anderer Füchse nach Nahrung suchen müssen und dabei wieder und wieder in unbekanntes Territorium vertrieben werden. Andererseits - wollte sich der Dachs nur zweier Nahrungskonkurrenten entledigen, so war jede Sekunde, die die beiden Füchse auf der Lichtung verharrten, verschwendete Zeit. Die Ungewißheit nagte an Swift, und es dauerte nur Augenblicke, bis der Dachs dessen gewahr wurde.
"Es ist mir egal, ob ihr mir all das glaubt oder nicht." knurrte er schließlich. "Aber wenn ihr dieses Revier verlaßt, ist es besser für euch und für mich. Ihr könnt euer Leben vielleicht noch einige Zeit genießen, bis euch woanders eine Kugel den Garaus macht...und ich bin zwei unliebsame Mitesser los.
Er blickte ein letztes Mal in die nachdenklichen, sichtlich erschütterten Mienen der beiden jungen Füchse. "Das hier ist kein Revier für Füchse." schloß er darauf. Ohne sichtliche Eile wandte er sich um und verschwand, einige sichernde Blicke über die Schulter zurück zu Swift und Cosy werfend, im Dickicht.
Das junge Fuchspaar war zu erschüttert, zu tief über die Worte des Dachses in Gedanken versunken, als daß sie in der Lage gewesen wären, weitere Fragen zu stellen, die womöglich mehr über den Wahrheitsgehalt der Äußerungen zu Tage gefördert hätten. Starr und ratlos standen sie auf der Lichtung, die inzwischen von den ersten über die Baumwipfel dringenden Sonnenstrahlen in ein warmes Licht getaucht wurde, und sahen einander an. Minuten vergingen so, qualvolle Momente hilfloser Stille.
"Wir bleiben hier." meinte Cosy schließlich, doch es klang mehr nach einer Frage als nach der Äußerung eines Entschlusses. Erst als Swift, selbst stark verunsichert und mehr durch die Worte der Füchsin als durch eigene Überzeugung dazu animiert, zustimmte, wurde Cosy ihrer Sache sicherer.
"Wir können nicht einfach alles aufgeben, was wir uns erkämpft haben." bekräftigte sie ihre Aussage.
Swift nickte stumm und bemühte sich, sich selbst davon zu überzeugen, daß die Behauptungen des Dachses nichts als den hinterlistigen Versuch widerspiegelten, Cosy und ihn selbst als lästige Konkurrenz aus dem Revier zu treiben. Doch diese Bemühungen blieben vergeblich. Zu sehr hatten die Ausführungen des Dachses, vor allem jedoch sein Wissen über die Eigenarten menschlicher Jäger, den Fuchs beeindruckt, als daß Cosys Argumentation seine Unsicherheit jetzt vollkommen zerstreuen konnte.
"Wenn wir bemerken sollten, daß das Leben hier tatsächlich gefährlicher wird als woanders, können wir ja immer noch auf die Suche nach einem neuen Revier gehen."
Die Stimme der jungen Füchsin drang nur schwach, wie durch Watte gedämpft, an Swifts Bewußtsein. Dennoch nickte er, in Gedanken versunken, erneut, und als er sich, Cosy folgend, auf den Weg zurück zu ihrem gemeinsamen Bau machte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als daß sie recht behalten würde.
Tatsächlich vergingen die nächsten Tage, ohne daß etwas geschah, das sich von den bisherigen Erlebnissen und Erfahrungen des jungen Fuchspaares negativ abhob. Swift und Cosy vergaßen in dieser Zeit die warnenden Worte des Dachses mehr und mehr, und es schien, als hätten die Füchse mit ihrer Vermutung selbstsüchtiger Absichten auf Seiten des Dachses nur allzu recht gehabt. In all den Wochen, die sie jetzt in ihrem neuen Revier zusammenlebten, waren ihnen außer den vollkommen harmlosen gelegentlich durch ihr Gebiet laufenden Spaziergängern und Joggern keine menschlichen Wesen begegnet, keine für ihr Leib und Leben gefährliche Situation hatte sich hier bislang ergeben. Die Zweibeiner schienen hier bei weitem nicht so gefährlich, wie der Dachs sie dargestellt hatte.
Die beiden jungen Füchse wähnten sich noch von schützender Dunkelheit umgeben, als sie nach einer anstrengenden, aber erfolglosen Nahrungssuche gemeinsam durch ihr Revier streiften. Swift folgte Cosy, wie benommen von ihrem betörenden Geruch – er spürte seinen nagenden Hunger, den Schmerz in seinem leeren Magen kaum, während sein Blick auf den bezaubernden Körper, den hin- und herpendelnden, leicht erhobenen buschigen Schweif mit der weißen Spitze, die grazilen schwarzen Pfoten der Füchsin gerichtet war. Keiner der beiden Füchse widmete der Tatsache allzu viel Aufmerksamkeit, daß die sich über den Horizont erhebende Sonne den dichten, schützenden Nebel in Bodennähe mit jedem verstreichenden Augenblick mehr verzehrte, und doch beschleunigten sie ihren Schritt instinktiv.
Noch mehrere hundert Meter trennten Swift und Cosy vom heimischen Bau, als die junge Füchsin auf einmal unvermittelt in ihrem Lauf innehielt und Swift verängstigt ansah.
"Menschen..." war das einzige Wort, das sie, einen Ausdruck namenloser Angst in den Augen, stimmlos hervorbrachte.
Swift spitzte die Ohren, lauschte angestrengt, bis er Cosy schließlich mit einem düsteren, von bitterer Erkenntnis gezeichneten Blick ansah. Sein Herz raste vor Angst, dennoch bemühte er sich, äußerlich ruhig zu bleiben.
"Das hier ist kein Revier für Füchse...". Die Worte des Dachses hallten in seinen Ohren wider. Jetzt stand nur mehr eines fest: Sie mußten rennen, laufen, wie sie noch nie zuvor in ihrem Leben gelaufen waren. Die Rückkehr zu ihrem Bau war ausgeschlossen. Swift und Cosy tauschten einen letzten liebevollen Blick, in dem unverkennbar die Sorge um das Leben des jeweils andern mitschwang.
Auf einmal wurde aufgeregtes Hundegebell laut, die Schreie der Treiber wurden unvermittelt lauter, dann peitschte ein Schuß durch den sich auflösenden Nebel des frühen Herbstmorgens, und ein kurzer, rasch erstickender Schmerzenslaut zeugte vom Tod eines Tieres unbestimmter Art. Swifts Läufe waren bis zum Äußersten gespannt, jede einzelne Faser seines Körpers drängte ihn dazu, endlich loszulaufen, nur weg von dem Gebell der Hunde, weg von den Schreien, dem Pfeifen und Klatschen der Treiber, weg von den Gewehren, den Schrotgarben und Kugeln... es war so schwer, klare Gedanken zu fassen...
"Schnell!“ hörte er Cosy bellen. „Nach rechts! Sie erwarten uns in direkter Flucht vor den Hunden und Treibern!“
Swift rannte hinter Cosy her, mehr um die Füchsin als um sein eigenes Leben fürchtend.

Die jungen Füchse konnten nicht wissen, wie Menschen ihre Opfer bei einer derartigen Jagd zu töten suchten. Ihr Entschluß, nicht in einer geraden Linie vor den Treibern zu fliehen, war eine gute Entscheidung, doch unterschätzten sie die perfide Taktik und hinterlistige Grausamkeit ihrer zweibeinigen Feinde bei weitem. Swift und Cosy hatten eine weitaus geringere Entkommenschance, als sie beide hofften, und der ganze Ernst ihrer Lage wurde den beiden Füchsen bereits Minuten später bewußt.
Gerade, als ihr weitgehend geradliniger Fluchtweg Swift und Cosy durch ein Gebiet mit weniger dichtem Unterholz zu führen begonnen hatte, ließ ein nur wenige Meter entfernter menschlicher Ruf die beiden jungen Füchse im Lauf zusammenzucken. Cosy wandte den Kopf hastig zur Seite. Erschrocken nahm sie eine im Gebüsch lauernde menschliche Silhouette wahr, der kalte Stahl des Jagdgewehres das Licht der aufgehenden Sonne reflektierend. Verzweifelt rief sie Swifts Namen, schlug selbst einen Haken und beschleunigte ihr Tempo bis zum äußersten. Ein Schuß, aus einer Entfernung von weniger als 30 Metern abgegeben, hallte in ihren empfindlichen Ohren wider. Sie wußte, daß jede Sekunde, die jetzt verging, ihre letzte sein konnte - und dasselbe galt für Swift.
Als Cosy just im Moment des Schusses den Kopf zur linken Seite wandte, sah sie Swift im Augenwinkel zusammenbrechen. Sein Aufschrei ließ das Herz der Füchsin sich zusammenkrampfen; Swift überkugelte sich in von Laubbäumen abgeworfenen gelben und braunen Blättern, die dadurch wild durch die Luft gewirbelt wurden. Einige Augenblicke lang überlegte Cosy, ob sie unter Einsatz ihres Lebens zurückrennen und Swift - wie auch immer dies letztendlich ausgehen mochte - helfen sollte. Vorübergehend verlangsamte sie ihren Lauf, unfähig, weiter in Ungewißheit über das Schicksal Swifts zu bleiben. Zum Glück der jungen Füchsin schien der Jäger sie als Beute bereits aufgegeben zu haben.
Swift kam indes nur für die Dauer weniger Sekundenbruchteile im Laub zum liegen. Gleichermaßen erstaunt, beobachteten sowohl der Jäger als auch Cosy, wie der junge Fuchs sofort wieder auf die Läufe sprang und, gleich einem Hasen hakenschlagend, weiterrannte. Ein zweiter Schuß peitschte hinter Swift her, verfehlte ihn jedoch ebenfalls. Nur langsam wurde dem enttäuschten Jäger, der seine Träume, Jagdkönig zu werden, nun begraben mußte, klar, daß allein der Schreck über den plötzlichen Knall dem Fuchs so zugesetzt hatte. Kopfschüttelnd rief er dem in Fluchtrichtung der Füchse nächststehenden Schützen zu, daß zwei Füchse im Treiben waren, die es nun zu erlegen galt.
Die Hoffnungen, die die jungen Füchse sich angesichts ihres glücklichen Entkommens machten, waren inzwischen wieder gewachsen. Sie rechneten nicht damit, daß noch ein zweiter Jäger in dieser Richtung auf eventuell aus dem Wald fliehendes Wild lauerte. Doch als Swift die Rufe des Menschen vernahm, der ihn eben zweimal verfehlt hatte, begann er bereits zu befürchten, daß ihre Feinde einem mehr als nur niederträchtigen Plan folgten.
Die beiden jungen Füchse hetzten gerade durch die letzten Ausläufer eines mäßig dichten Teils des Wäldchens, an das sich offenes Weideland anschloß. Swift und Cosy hofften, daß sich die Treibjagd nur auf den Wald selbst, nicht aber auch auf die Wiesen in seiner unmittelbaren Umgebung erstreckte, und aus diesem Grund rannten sie verzweifelt auf den Waldrand zu. Sie hatten ihn beinahe erreicht, als ein lauter Pfiff den verängstigten jungen Füchsen durch Mark und Bein drang. Verwirrt sahen die unerfahrenen jungen Füchse in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, verlangsamten dabei unwillkürlich ihren Lauf - und erkannten den hinterlistigen Trick des alten Fuchsjägers zu spät. Für Sekundenbruchteile lief ein stummer Dialog zwischen Cosy, die in geringerer Entfernung zu dem Schützen stand als Swift, und dem grüngekleideten, das Gewehr im Anschlag haltenden Mann ab. "Dein Pelz gehört mir, Fuchs, wie so viele andere vor Dir" schien das faltige, harte Gesicht des Menschen zu sagen. Cosys Gesichtsausdruck spiegelte Panik, nackte Todesangst wider. Sie wußte, daß jene kurzen, abgehackten Atemzüge, die sie in diesem Moment tat, die letzten ihres jungen Lebens sein würden.
Swift schrie ungläubig auf, nahm die Umgebung nur noch in schemenhaften Umrissen war, glaubte, vor psychischem Schmerz ohnmächtig zu werden, als Cosy sich im Schrotschuß überschlug und reglos auf dem Boden liegenblieb. Dunkle Blutspritzer färbten ihr weißes Bauchfell tiefrot; ihr Gefährte, der nur wenige Meter von ihr entfernt stand, konnte jeden einzelnen der fein gezeichneten Züge ihres zu einer schmerzverzerrten Grimasse verwandelten Gesichts erkennen. Wie in Trance, ohne länger in der Lage zu sein, auch nur eine einzigen klaren Gedanken zu fassen, hetzte er zu Cosy hinüber. Er schenkte dem Jäger, der zu Swifts Glück gerade nachlud, nicht die geringste Beachtung, als er die Füchsin sanft mit der Pfote anstupste, ihr in die geöffneten, starr geradeaus blickenden Augen sah und ihr wenige Sekunden lang zärtlich das blutverschmierte Bauchfell leckte. Es blieben keine Zweifel mehr - Cosy war tot, und mit ihr schienen auch Swifts Lebensgeister erloschen zu sein. Eine unerklärliche Gleichgültigkeit ergriff von ihm Besitz, und Swift wich erst von der Seite seiner erschossenen Gefährtin, als ein deutlich vernehmbares Klicken davon zeugte, daß die Flinte des Jägers erneut zum Töten bereit war.
Der junge Fuchs blickte zum Jäger hinüber, nahm die Lust auf Blut und Beute im Gesichtsausdruck des Menschen wahr, und im selben Moment traf er die Entscheidung, sich sein Fell um keinen Preis von diesem Jäger, dem Mörder Cosys, abziehen zu lassen... er sollte nicht noch einen Triumph feiern, nicht noch ein Fuchsfell an seine Wand nageln... das war er Cosy schuldig! Swift hetzte los, so schnell er konnte, schlug einen Haken, und ignorierte den Schmerz, den er nach dem ersten Schuß des Jägers in seiner linken Schulter spürte – ein Streifschuß, den er überleben würde. Bereits nach dem zweiten, ihn deutlich verfehlenden Schuß befand sich der junge Fuchs außerhalb der Reichweite der jägerischen Flinte - und dennoch hörte er nicht auf zu rennen. Ohne Ziel, ohne konkrete Absicht hetzte Swift minutenlang weiter. Er lief davon, ohne länger zu wissen, wovor - irgendetwas trieb ihn dazu, etwas, auf das er keinen Einfluß mehr hatte. Seine Gedanken waren ausgeschaltet, Emotionen rangen in seinem Innern miteinander - Trauer, Haß, Angst, Mitleid, Ekel, Agonie und Schmerz -, und er gewann sein Bewußtsein erst vollkommen zurück, als er mitten auf einer Straße im Vorort der an das Wäldchen angrenzenden Stadt einer Gruppe verdutzt auf ihn herabsehender Menschen gegenüberstand. Sekundenlang tauschten Fuchs und Menschen verwirrte Blicke, bis Swifts Angst wieder übermächtig wurde, und er sich in ein dichtes Gebüsch am Rande des Vororts flüchtete.